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Jahrtausendendflügelfiguren

Die Industrie zittert, die Banken bibbern und die TK-Anbieter legen von Panik getrieben monströse Geldbeträge auf die hohe Kante. Diesen Eindruck gewinnt man bei der Lektüre der einschlägigen EDV-Literatur, wenn es um das Thema Jahr 2000 geht.

Was wirklich passieren wird, wissen nur die Firmen, die es gewagt haben, ihr Rechnerdatum testweise auf den 1. Januar 00 zu stellen. Die meisten dieser Versuche haben Handlungsbedarf an vorher nicht erwarteten Stellen ergeben. Microcontroller in diversen Geräten, Steuerungen für Fahrstühle, Kontrollsysteme von Klimaanlagen, integrierte PCs in Fertigungsanlagen, Steuerungssyteme für Hochregallager, automatisierte LKW-Flottensteuerungen - überall lauert das kleine Datumsteufelchen. Allein die schiere Menge der möglichen Problemstellen außerhalb der Mainframewelt läßt es mittlerweile unwahrscheinlich erscheinen, daß alles gut geht.

Vorausschauende Firmen, die z.B. Fertigungsanlagen herstellen, haben ihren Kunden schon mal ein mehrtägiges Wartungsintervall ab dem 31.12.99 in den Kalender gedrückt, um wenigstens die wirklich peinlichen Probleme beheben zu können. Eine Produktionspause, die man schon zwei Jahre vorher einplanen kann, ist immerhin weniger schlimm als eine, die plötzlich und unerwartet auftaucht. Böse Zungen behaupten angesichts der grassierenden Updatewelle, daß die Schäden durch hektisch mit der heissen Nadel gestrickte Software wesentlich höher ausfallen werden, als alles, was die Datumsbyteschlammperei verursacht hätte. Microsoft schlägt wie üblich alle Rekorde in Dreistigkeit. Während Excel davon ausgeht, daß alle Jahreszahlen von null bis 29 im nächsten Jahrtausend liegen und alle anderen in diesem, ist Windows NT schlicht "nicht in allen Komponenten Y2K-compliant". Durch heftiges Marketing sollen alle Kunden, die bisher NT einsetzen, zum Kauf der dann angeblich Y2K-kompatiblen Version 5.0 des Betriebssystems bewegt werden.

Die Streufolgen eines Ausfalls bei einem System sind nahezu nicht vorauszusehen. Am heftigsten dürfte sich ein Ausfall kritischer Infrastrukturkomponenten wie etwa des Stromnetzes bemerkbar machen. Lästig hieran wäre nicht nur ein Ausfall der Rechner, des Lichts und das Internets. Viele Gasheizungen z.B. haben eine elektrische Pumpe und funktionieren demzufolge ohne Strom nicht. Ein schönes Beispiel für Interdependence im Heimbereich.

Das gerade im Bankenbereich und bei SAP-Systemen die doppelte Belastung durch die Euro-Umstellung und Y2K zu Problemen bei der Softwarequalität führt, scheint klar. Immerhin hat das deutsche Bruttosozialprodukt alleine durch die Umstellung der fossilen SAP R/2-Installationen auf R/3 noch einen kräftigen Anstieg bis zur kritischen Marke vor sich.

Unkonventionelle Lösungsansätze, wie etwa der Vorschlag, einfach weltweit das Datum auf 1995 zurückzustellen dürften auch kaum weniger Probleme erzeugen. Die jüngst von Historikern debattierte Erkenntnis, daß die katholische Kirche in unsere Zeitrechnung die Jahre von 600 bis 900 zum Zwecke der Bereicherung durch Urkundenfälschung eingefügt hat, ist hier leider auch nicht zielführend. Selbst wenn alle sich darauf einigen könnten, diese 300 Jahre wieder aus der Zeitrechnung zu entfernen, hätten die Programme mit Datumsangaben von 1799 noch ganz andere Probleme.

frank@ccc.de

 

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